5. Ausgabe – Editorial
Der deutschsprachige Literaturbetrieb ist eine der letzten – gerade noch so wirkmächtigen – gesellschaftlichen Institutionen, die über Jahrhunderte gewachsen sind. Nicht wenige Verlage blicken auf eine mehr als 150 Jahre alte Tradition zurück. Und sie pressen Kunst in eine stark reglementierte Form, die sich bemerkenswerterweise zeit ihres Bestehens und trotz existentieller Bedrohung kaum verändert hat. Entsprechend hinken moralische Vorstellungen und progressives Denken des Literaturbetriebs denjenigen anderer Kunstsparten hinterher. Streaming hat die Musik- und Filmszene revolutioniert und queere Inhalte an die Oberfläche gespült. Die erzählende und lyrische Literatur im deutschsprachigen Raum geht hingegen mehr und mehr in Sendepause.
Gegen all das kämpfen wir mit Glitter an. Wir rücken queere Realitäten in den Mittelpunkt und machen damit Literatur wieder relevant: Als Akt der Selbstermächtigung von uns queeren Autor*innen und als Resonanzraum, in dem sich Literaturbetrieb und Gesellschaft reflektieren und die Selbstwahrnehmungen diversifizieren können. Seit sechs Jahren rufen wir, wo immer es geht, »Mehr queere Literatur!« in den Raum, und wurden dafür dieses Jahr in gewisser Weise mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet, den die Glitter-Autorin erster Stunde, Antje Rávik Strubel, ein kleines bisschen auch für uns mit gewonnen hat. Das behaupten wir hier jetzt einfach einmal.
Auf der Frankfurter Buchmesse wurden auch dieses Jahr wieder menschenfeindliche, extrem rechte Verlage zugelassen – zum Schaden der Mehrheit anderer Akteur*innen des Literaturbetriebs. Einer dieser Verlage zog auf einem Klappentext zur Selbstlegitimierung den kommunistischen Schriftsteller Antonio Gramsci heran: Dieser habe festgestellt, »dass jede Bewegung, die auf Erlangung von Hegemonie hinarbeite, ihre Ideen zunächst im vorpolitischen, im kulturellen Raum als führend setze«. Gramsci ist während der Inhaftierung durch die italienischen Faschisten verstorben.Um den Rechten weder den Diskurs noch Gramsci zu überlassen, eignen wir uns hier diesen Gedanken in bester queerer Tradition wieder zurück an:
Insbesondere Literatur hat das Potential im kulturellen Bereich den Ton anzugeben, weil sie Sprache ist, weil sie Sprache versteht und zu nutzen weiss – weil Sprache unser Denken prägt und umgekehrt. Allerdings streben wir gar nicht so sehr nach Hegemonie, wie es Politiker*innen bis weit nach links aus Angst ihre Vormachtstellung zu verlieren, gerne von uns queeren Aktivist*innen behaupten. Nein, wir wollen viel, aber nicht mehr als alle anderen: Wir wollen teilhaben an Kultur, Gesellschaft und Politik. Schlicht und einfach, weil es uns gibt, und schon immer gab. Viel zu lange wurden wir in normierte Schränke weggesperrt. Nun ist es an der Zeit, dass wir Türen auftreten, die allen voran alte, weisse, heterosexuelle, cis Männer lieber verschlossen halten würden – weniger aus böser Absicht als aus antrainierter patriarchaler Ignoranz.
Queere Themen gehen nicht nur Queers etwas an! Wenn der Literaturbetrieb – von den Schreibschulen über die Journalist*innen bis zu den Verlagen – das endlich einsieht, wird die Literatur um einige Dimensionen erweitert werden. Wie sich das darstellen könnte, lässt sich auf den folgenden rund 130 Seiten Glitteratur entdecken:
In den Schlaglichtern von »Anka II« lässt Sonja M. Schultz in atmosphärischer Sprache die intensiven Bilder einer Dorfjugend und die ambivalente Zuneigung zweier Freundinnen zueinander aufleben.
Julia Rüegger findet in »Kunst der Vorbereitung« eine unbarmherzig ehrliche und prägnante Sprache für gesellschaftliche Körperbildfetische und all die Dinge, die vor der echten Liebe auf uns warten.
In »cry boy cry« cruist Tom Tautorus in bissig popliterarischer Manier und im Bronski-Beat-Sound mit einem Ich-Erzähler im Puls der Nacht durch Bahnhöfe und eine fragmentierte Ich-Wirklichkeit.
Der Stream of Consciousness »das leere blatt« von Jara Nassar beschäftigt sich rasant und atemlos mit Schreibprozessen und der Frage nach dem Schreibbaren, dem Patriarchat der Sprache sowie den Geschichten und Gefühlsexistenzen zwischen Beirut und Berlin.
2008 erschien Zora del Buonos fulminanter Berlin-Roman »Canitz’ Verlangen«. Für Glitter taucht sie nochmal ab in den Werkprozess und lässt den Spirit der queeren Szene des vergessenen Berlins Anfang der Neunzigerjahre intim aufleben.
Der Erzähler in Kadir Özdemirs »Ich kann immer noch umkehren« durchläuft auf High Heels im Dorf seiner Ahnen eine sprachlich präzise und tiefgründige Sinnsuche nach Identität und Zugehörigkeit.
Corona-Tests statt Blumen, das Aufbrechen von Denkmustern und Zeitgeistschablonen – Jessica Jurassica findet in »Meine heimliche Liebe zu Bruder Antonius« pointierte Zärtlichkeiten in sich selbst und vor dem Küchenfenster.
Norwin Tharayil versetzt in »Tagsüber halte ich still für dich« abstrakt und wortgewaltig Schweizer Frühgeschichte mit Reflektionen über familiäre Symbiosen und Dysfunktionalitäten.
Das Haus als Metapher – in »I killed myself, now I’m becoming a ghost« lässt Rebecca Nea Alemee Meyer ein Haus in Flammen aufgehen und die Fremdbestimmung des eigenen Körpers als lyrisch-prosaische Litanei Revue passieren.
In »Zustands-Anleitung« leuchtet Caca Savic´ nicht nur lyrisch die Grenzen zwischen Körperzuständen und deren Erfassbarkeit in Sprache aus, sondern setzt das weibliche Autor*innen-Ich kritisch in den literaturbetrieblichen Kontext.
In Queering Röstigraben wagen wir zum ersten Mal den Sprung in die Romandie. In Zusammenarbeit mit Paulette éditrice haben wir vier queere Autor*innen aus der französischsprachigen Schweiz eingeladen, Kurztexte beizusteuern, die Annette Hug für uns übersetzt hat.
Und in 21 Mikrotexten – Gedichte, Kürzestgeschichten und Romanauszüge – geben zur abschliessenden Krönung nochmals 19 Autor*innen Einblicke in weitere Möglichkeiten queeren Literaturschaffens.
Die diesjährigen Illustrationen sind an Natyada Tawonsris Comic »b the cowboi – cowboi bæmshi« angelehnt, wurden für die Glitter aber überarbeitet und neu angeordnet, sodass eine eigene, collagenartige Erzählung entsteht. Inspiriert von einem Interview mit der Musikerin Mitski ist »b the cowboi – cowboi bæmshi« mitunter autobiographische Aufarbeitung. Der Comic thematisiert das Aufwachsen in einem konservativen Dorf als queere, nicht-cis, nicht-weiße Person sowie den Wunsch danach, auszubrechen.















